Unter Helmen (6) - die Motorradkolumne: "Frauen in Angst"


Burkhard Straßmann

 


Es gibt Männer, die stricken Mützen und wechseln ihren Kindern die Windeln. Es gibt Frauen, die fahren Motorrad. Am 1. Juli 1995, so die aktuellste Zahl des Kraftfahrt-Bundesamtes, gab es in Deutschland 303 835 Kraftradhalterinnen. Sie halten dreizehn Prozent des Gesamtbestandes. Also müßte statistisch auf jedem achten Motorrad, das an uns vorbeidonnert, eine Frau sitzen. Tatsächlich sitzt da eine Frau, aber hinten. In Wahrheit sind Motorradfahrerinnen im Straßenbild eine rare Ausnahme. Außer bei Frauen-Motorradtreffen und neulich im Odenwald.

Neulich im Odenwald, am Ende einer Schotterstraße mit sehr engen Spitzkehren, in einem Heim der Naturfreunde, hatten sich elf Motorradfahrerinnen um eine Fahrlehrerin und eine Psychologin geschart. Hier ereignete sich das (wahrscheinlich weltweit) erste Anti-Streß-Motorradtraining für Frauen. Um gleich die Dimension der Not, die die Frauen in dieses Seminar trieb, zu verdeutlichen: Ein Mann hatte seine Freundin mit dem Auto gebracht. Ihr Motorrad stand auf dem Anhänger.

Elf Frauen zogen ihre Lederstiefel aus, legten sich auf den Boden, hörten lateinamerikanische Musik und versuchten, sich fallenzulassen. Als das geschafft war, durften sie über ihre Ängste reden. Die Ängste der Frauen beim Motorradfahren! Was da zusammenkam, würde einem Mann den Kommentar entlocken: Die haben Angst vor dem Motorradfahren selbst. Warum nur tun sie sich das überhaupt an? Wohlan: Fragen wir Elke.

Die Anti-Streß-Motorradtrainerin Elke Radewald ist Speditionskauffrau, Diplompsychologin und natürlich Motorradfahrerin. Natürlich? Natürlich wurde sie von ihrem Freund überredet, den Führerschein zu machen. Am ersten Tag hat sie ihr Motorrad dreimal umgeworfen. Statt an einer engen Stelle das Motorrad zu wenden, fuhr sie lieber drei Kilometer Umweg. Als sie mal über eine steile Rampe auf eine Fähre mußte, war die ganze Überfahrt versaut, weil sie nicht wußte, wie sie da wieder runterkommen würde. Da erinnerte sie sich an ihre Psychologie. "Ich habe mit mir gearbeitet. Ich habe visualisiert, wie es klappen könnte, statt mir vorzustellen, wie es schiefgeht. Ich habe schwer gearbeitet. Dann habe ich es gemacht." Sie ist einfach runtergefahren. Die anderen Motorradfahrerinnen an Bord ließen sich ihre Motorräder von Männern an Land fahren. Da war die Idee geboren: Ein Anti-Streß-Motorradtraining für Frauen muß her, jawoll!

Ach, der Odenwald. Seine Spitzkehren. Frauen und Spitzkehren. Die erste Spitzkehre nach dem mentalen Training, und es machte rums. Eine Frau war gestürzt. "Ich weiß gar nicht, wieso: Immer wenn ich anhalte, falle ich um." Kurze Besinnung, Anhalten in Zeitlupe - aha! Sie bremst nur mit der Vorderbremse, das Rad blockiert, die Maschine kippt um. Eine Kleinigkeit eigentlich. Da macht es schon wieder rums. Die nächste liegt auf dem Asphalt.

Was finden Frauen am Motorradfahren schön? "Ich gucke mich gern in der schönen Gegend um", sagt Elke. Männer interessieren sich weniger für die schöne Gegend, insbesondere, wenn sie aus Bäumen besteht, die den Blick auf den Verlauf der Spitzkehren verstellen. Männer lieben Spitzkehren. Wegen der Grenzerfahrung. Die Frauen fahren abends nicht mehr ins Gasthaus zum Essen und schieben lieber Kohldampf. Wegen der Spitzkehren.

"Focusing" heißt Elkes Methode. Ihre Grundannahme ist optimistisch: Wir wissen tief in uns drinnen schon, was richtig wäre und gut für uns ist. Man muß nur tief genug nachschauen. Was befürchtest du? Hast du eine Idee, wie es gehen könnte? Was brauchst du? Fleißiges Focusing findet einen Weg, wie man ohne Blamage sein Motorrad vor den Augen anderer Motorradfahrer abstellt oder gar aufbockt, für Frauen eine Streßlage sondergleichen. Einmal ist Elke vor lauter interessierten Männern ("Jetzt müssen die Weiber auch noch Motorrad fahren") gestartet. Leider steckte das Schloß noch in den Speichen. Elke hat es mental überlebt, aber sie ist ja auch psychologisch geschult.

Die Psychologin hat jetzt eine Hotline eingerichtet. Motorradfahrerinnen in Not dürfen 0621/85 88 27 anrufen. Im nächsten Jahr gibt es das nächste Seminar. Es gibt kein Seminar für Männer, die ihre Frauen zu den Seminaren karren.

Ach ja, Elke sagt von sich: "Ich bin ein ganz großer Pausenfan." Wenn man die Pause als das Gegenteil von Motorradfahren definiert, verbirgt sich hier womöglich die Antwort auf die Frage, warum man auf der Straße so selten Motorradfahrerinnen sieht.

 

In der newsgruppe de.rec.motorrad finden Sie weitere Debatten zum Thema. Mitunter spielt auch diese Kolumne eine nicht ganz unmaßgebliche Rolle.


© beim Autor/DIE ZEIT 1996 Nr. 34
All rights reserved.